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Hochstamm-Streuobstwiesen gehören seit Jahrhunderten fest zur Landschaft vieler deutscher Regionen. Doch die Landkarte der Streuobstwiesen bekommt immer mehr Lücken - und mit jeder der Baumwiesen stirbt auch ein Stück einzigartige Natur.
Kleine Streuobstkunde
Unter Streuobst werden im Allgemeinen großwüchsige Bäume verschiedener Obstarten, Sorten und Altersstufen verstanden, die auf Feldern, Wiesen und Weiden in ziemlich unregelmäßigen Abständen gewissermaßen "gestreut" stehen. Zum Streuobst werden aber auch Einzelbäume an Wegen, Straßen und Böschungen sowie Baumreihen gezählt. Auf Streuobstwiesen stehen Bäume lockerer als im Intensivanbau auf Obstplantagen, daher werden die Wiesen auch als Mähwiese oder Viehweide genutzt. So teilt sich die Bewirtschaftung und Pflege eines Streuobstbestandes in die sogenannte "Obernutzung", also der überwiegend hochstämmigen Obstbäume, sowie die "Unternutzung", also der Flächen unter den Bäumen. Die Streuobstwiesen sind von kulturellem, landschaftsästhetischem, ökologischem und wirtschaftlichem Wert.
Standorte: Wo man Streuobst findet
Generell sind in allen deutschen Bundesländern Streuobstbestände, sei es auf kleinen privaten oder kommunalen Flächen, größeren Wiesen oder kleineren Obstgärten, zu finden. Bundesweit gibt es schätzungsweise 300.000 Hektar Streuobstwiesen, im Schwerpunkt befinden sich die größten zusammenhängenden Bestände in Süd- und Mitteldeutschland. Besonders prominente Streuobst-Regionen in Deutschland sind die Folgenden: Schwäbisches Streuobstparadies, Schwäbisches Mostviertel, Moselregion, Südpfalz, Havelland, Altmark, Nordwestmecklenburg, Elbtal, Oberlausitz, Mainfranken, Burg Bernheim, Altmühlfranken, Rhön, Vorderheide (Taunus), Westfalen-Lippe, Rheinland, Nordharz
Werfen Sie einen Blick auf die Karte der Streuobst-Aktiven in Deutschland.
Auch in anderen Staaten Europas gibt es große Bestände, beispielsweise in Frankreich (Normandie, Lothringen), Luxemburg, Spanien (Norden), Österreich, Tschechien, Slowenien und in der Schweiz.
Relevanz: Kultur- und Naturtalent
Streuobstwiesen sind ein besonderer und prägender Bestandteil unserer Regionen. Sie sind eine Kulturlandschaft, also durch den Menschen geschaffen worden und können nur durch eine kontinuierliche Bewirtschaftung weiter bestehen. Außerdem spielen Streuobstwiesen für die Biodiversität eine herausragende Rolle. Viele bedrohte Tier- und Pflanzenarten wie Schmetterlinge, Fledermäuse, Wildbienen und Vögel (z.B. Steinkauz, Halsbandschnäpper, Wendehals und Wiedehopf) fühlen sich auf den Wiesen wohl. Es leben normalerweise über 5.000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten auf unseren Streuobstwiesen. Zum Artenreichtum tragen darüber hinaus auch die über 6.000 verschiedenen Obstsorten bei, die durch jahrhundertelang betriebene Anbaupraktiken und Züchtungen bis ins 20. Jahrhundert entstanden.
Kurz gesagt: die Kulturform "Streuobstanbau"
Streuobstlandschaften als Äcker, Wiesen oder Alleen mit hochstämmigen, großkronigen Obstbäumen wurden nicht einfach aufgebaut wie ein Gebäude. Sie sind aus einer landwirtschaftlich-kulturellen Entwicklung entstanden und damit direkt an menschliches Wissen gebunden.
So umfasst der Streuobstanbau zum einen die Pflege und Bewirtschaftung der Bestände und die verschiedenen Verarbeitungsmethoden von Streuobst. Zur Ausübung dieser Kulturform zählt ebenso die Austragung von Festen, die Erforschung und Weiterentwicklung des Biotoptyps und von Sorten, Produktentwicklung, Wissensvermittlung, sowie Marketingmaßnahmen oder Öffentlichkeitsarbeit. Dabei sind die Akteure meist in Vereinen, Verbänden oder Initiativen organisiert. Streuobstanbau besitzt einen identitätsstiftenden Charakter und ist somit nicht nur für die Praktizierenden, sondern auch für die heimische Bevölkerung und regionale Identität von großer Bedeutung. Streuobstwiesen prägen das Landschaftsbild und erzeugen somit allein durch ihre Existenz ein Gefühl von Heimat. Alte Obstsorten sind ein wichtiger Teil von regionaler Kultur und Identität.
Bäume in Gefahr
Die Landkarte der Hochstamm-Streuobstwiesen bekommt Jahr für Jahr mehr Lücken. Mit jeder der Wiesen geht ein besonderes Stück Natur verloren. Wo die alte Kulturlandschaft mit den hochstämmigen, großkronigen Obstbäumen zurück geht, verschwinden nicht nur ein wichtiger Lebensraum, sondern auch zahllose alte Obstsorten; robuste, perfekt an die regionalen Bedingungen angepasste Bäume, mit außergewöhnlichen Aromen und Geschmacksvariationen.
Die Entwicklung der deutschen Streuobstbestände in Zahlen: 2015 rund 300.000 ha -> 1950 rund 1,5 Mio. ha
Nicht zuletzt geht mit dem Verlust der Baumwiesen auch traditionelles Wissen zu deren Pflege, Bewirtschaftung und Handwerkstechniken sowie zur vielfältigen Nutzung und Weiterverarbeitung des Obsts verloren. Somit ist ein reiner Objektschutz von Streuobstbeständen wirkungslos, wenn nicht auch das Wissen um kontinuierliche Erhaltung und Anpassung von Streuobstbeständen geschützt und an künftige Generationen weitervermittelt wird.
Historie: Von den Römern zur Gegenwart
Die Anfänge des Obstbaus reichen bis in die Urzeit zurück, als bereits Wildformen von Apfel, Birne oder Walnuss gesammelt und genutzt wurden. Vor ca. 2.000 Jahren gelang der Obstbau mit Kulturformen über die Römer, welche von den Persern und Ägyptern lernten, auch ins heutige Deutschland. Bis zum Hochmittelalter wurde das Wissen um die Kulturform vorwiegend von Fachleuten mündlich und in der Praxis weitergegeben, teilweise auch in antiken Schriften festgehalten. Im Hochmittelalter bewahrten und erweiterten vorwiegend die Klöster und Mönche durch ihren internationalen Tauschhandel das Wissen um Sortenvielfalt und entwickelten verschieden Praktiken weiter, bevor in den kommenden Jahrhunderten Hildegard von Bingen oder auch Albert Magnus das Wissen über kultivierte Obstsorten, Bewirtschaftungs- und Veredelungspraktiken vermehrt zu Papier brachten und im 15. Jahrhundert das erste obstbauliche Lehrbuch entstand. Einzug in die Wissenschaft erhielt die Obstkultur Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Anlegen eines Lehrgartens zur Unterrichtung von Studenten in Göttingen. Der Streuobstbau, wie wir ihn mit seinem landschaftsprägenden Charakter kennen, ist erst im 18. Jahrhundert durch zahlreiche Verordnungen von Landesherren entstanden. Im 19. Jahrhundert entstanden immer mehr unabhängige Obstanbaugebiete und private Obstbauinitiativen. Um das Fachwissen zu popularisieren, wurde im Zuge dieser Entwicklung in Hohenheim die Baumwart-Ausbildung und Obstbaulehre initiiert. Die Bestandsdichte stieg dabei im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Regulierung und Begrenzung auf einzelne "anbauwürdige" Sorten in der späten Kaiserzeit und Weimarer Republik. Heute wird das Wissen von Generation zu Generation vor allem innerhalb von Familien oder Betrieben nach wie vor mündlich und in der Praxis weitergegeben. Darüber hinaus wird das Wissen um die Kulturform von Hochschulen, Vereinen, Naturschutzverbänden, Initiativen, Pomologen, Pädagogen oder Baumwarten bewahrt, weitergegeben und -entwickelt.